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Verwaltung & Bürgerservice
Dates 2023

Geras Gleichstellungbeauftragte traf André Schneider vom Projekt Orange in Gera

Hilfe für Menschen, die Gewalt ausüben oder befürchten, gewalttätig zu werden

Von Gewalt loskommen – dabei unterstützt André Schneider (r.) in Gera auch über einen längeren Zeitraum mit Gesprächen und Trainings kostenfrei und individuell für die Betroffenen. Geras Gleichstellungsbeauftragte Catrin Heinrich traf ihn in ihrer Serie der Besuche von Mitgliedern im Geraer Netzwerk gegen häusliche Gewalt.
Von Gewalt loskommen – dabei unterstützt André Schneider (r.) in Gera auch über einen längeren Zeitraum mit Gesprächen und Trainings kostenfrei und individuell für die Betroffenen. Geras Gleichstellungsbeauftragte Catrin Heinrich traf ihn in ihrer Serie der Besuche von Mitgliedern im Geraer Netzwerk gegen häusliche Gewalt.

Das Team vom Projekt Orange in Gera hilft Menschen, die häusliche Gewalt in Partnerschaften und gegenüber Kindern ausüben oder befürchten, gewalttätig werden zu können. André Schneider als Leiter des Projektes schildert im Gespräch mit Geras Gleichstellungsbeauftragter Catrin Heinrich die Chancen, von Gewalt loszukommen:

1. Ist es zu schaffen, dass man als gewaltausübende Person ganz loskommt und keine Gewalt mehr ausübt?
Ganz klares Ja. Gewalt ist ein Fehlverhalten wie Drogenkonsum oder wie allgemeine Straffälligkeit mit Diebstahl oder Fehlern im Straßenverkehr. Man kann sich ändern.

2. Über welche Wege und Netze finden Betroffene zu Ihnen?
Über Internet, Telefon und die Beratungsstelle. An uns vermitteln häufig das Netzwerk gegen häusliche Gewalt unter anderem mit der Interventionsstelle Gera-Saalfeld, dem Kinderschutzdienst und der Bewährungshilfe als auch das Gericht oder das Jugendamt. Seit 2021 arbeitet die Polizei mit uns über ein bundesweites Modellprojekt zusammen: Bei Zustimmung der gewaltausübenden Person treten wir in Kontakt und beraten.

3. Immer mehr Menschen suchen Sie freiwillig auf, wie erklären Sie sich das?
Ja, rund 50 Prozent sind „Selbstmelder“. Sie hörten von uns oder ihre Partner und Freunde rieten Ihnen, sich bei uns Hilfe zu holen. Wir freuen uns sehr darüber und ermutigen auch die, die befürchten, gewalttätig zu werden, zu uns zu kommen. Wenn jemand spürt, er oder sie hat sich nicht unter Kontrolle oder wenn die Partner Angst haben, dann bei uns melden. Dann haben wir eine Chance, Gewalt zu vermeiden – mit allem, was Gewalt macht mit Opfern und Tätern.

4. Alkohol ist bei 50 Prozent von häuslicher Gewalt der Auslöser. Müsste der Alkoholkonsum reglementiert werden und Gewalt wäre rückläufig?
Verbote sind so eine Sache, dazu sollten andere befragt werden. Aber ja, Alkohol senkt die Hemmschwelle und kann angespannte Situationen eskalieren lassen. Auch für das Loskommen von Gewalt mit einer gemeinsam entwickelten Strategie ist Alkohol hinderlich, weil Alkohol das rationale Denken und Handeln und damit die Strategie ausschaltet und Menschen dann nicht das tun können, was für sie entscheidend ist, um von Gewalt loszukommen.

5. Sie sagen, eine Trennung in der Familie gehört zu häufigen Auslösern für Gewalt. Wieso fügen sich Menschen Schmerzen zu, wenn sie sich lieben oder nahe stehen?
Genau das ist das Problem: Es geht um ganz viel, um Familie, geliebte Menschen, Kinder … deshalb sind Trennungen hoch emotional und können für alle Beteiligten sehr gefährlich werden. Sogar für die Polizei gelten Einsätze in Trennungskonflikten als hoch riskant. Nicht umsonst kann Tatausübenden bis 6 Monate Zutritt zur Wohnung verboten werden.

6. Opfer werden oft Täter – gibt es andere Faktoren, an denen sich jeder hinterfragen kann, besonders gefährdet zu sein, Gewalt auszuüben?
Die Kindheit spielt eine große Rolle über die sogenannte transgenerationale Weitergabe. Ja, das ist so. Hinterfragen sollte sich auch, wer auch bei allgemeiner Kriminalität schon unterwegs ist mit Sachbeschädigung, Körperverletzung und Drogen. Auch, wer sich in einem gewaltbereiten Umfeld befindet. Psychische Probleme sind eine weitere Ursache, mit der Grenzen verschwimmen zum Beispiel bei Depressionen, Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus und Borderline. Als gefährdet gilt auch, wer Macht über jemanden ausüben will, wer impulsiv ist und schnell „hochgeht“. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt. Auch psychische Gewalt spielt eine große Rolle mit Beleidigungen, Einschüchterungen, und erhöhter Kontrolle über das soziale Umfeld, den Tagesablauf oder die Finanzen.

7. Greifen Sie in Ihren Gesprächen mit Gewaltausübenden auf, ob diese selbst Gewalt erfahren haben?
Ja, und es gibt da einen wichtigen psychologischen Effekt: Wenn Gewaltausübende ihr eigenes erfahrenes Leid reflektieren, stärkt das ihre Empathie, also ihre Empfindsamkeit gegenüber Opfern. Auch darauf lässt sich aufbauen, um neues Verhalten zu üben.

8. Was erwartet mich, wenn ich zu Ihnen komme?
Wir verurteilen den Menschen nicht – das machen die Gerichte - wir verurteilen die Tat und setzen da an, Menschen zu fördern und zu unterstützen. Menschen wollen ihre Tat gern herunterspielen im Sinne von es sei „nicht so gemeint gewesen“ oder „nur mal die Hand ausgerutscht“. Wir reden darüber, hinterfragen Ursachen, vermitteln Methoden der Hilfe zur Selbsthilfe, wir üben zu kommunizieren, Konflikte zu lösen, Gefühle zu lesen, gemeinsam etwas abzusprechen, ruhig zu bleiben, raus zu gehen aus einer hitzig werdenden Situation, sich nicht zu beschimpfen und zu beleidigen, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Wir trainieren, Konflikte auszuhalten und Verantwortung übernehmen. Und dann motivieren wir durchzuhalten, bis sich tatsächlich Verhalten ändert – das ist entscheidend. Bis zu einem halben Jahr begleiten wir mit individuellen Terminen und können dann auch schauen, ob es über die Zeit hinaus noch Hilfen geben sollte und kann. Und bei allem sind wir verschwiegen und stehen für alle Fragen zur Verfügung.

Platz nehmen auf den orangen Stühlen im Projekt Orange in Gera bei André Schneider (r.) können hier Personen, die Gewalt ausüben oder die einschätzen, gewalttätig werden zu können. Das Projekt Orange begleitet professionell und über einen längeren Zeitraum. Darauf möchte die Geraer Gleichstellungsbeauftragte Catrin Heinrich (r.) mit ihren Besuchen bei Mitgliedern des Netzwerkes gegen häusliche Gewalt aufmerksam machen.
Platz nehmen auf den orangen Stühlen im Projekt Orange in Gera bei André Schneider (r.) können hier Personen, die Gewalt ausüben oder die einschätzen, gewalttätig werden zu können. Das Projekt Orange begleitet professionell und über einen längeren Zeitraum. Darauf möchte die Geraer Gleichstellungsbeauftragte Catrin Heinrich (r.) mit ihren Besuchen bei Mitgliedern des Netzwerkes gegen häusliche Gewalt aufmerksam machen.

9. Was macht der Kreislauf der Gewalt mit Menschen?
Er beginnt mit einer Diskussion und Uneinigkeit. Eine Person verliert dabei die Kontrolle über die Situation/den Partner, verliert dazu die Selbstkontrolle und hält normale Grenzen nicht ein, sondern wendet Gewalt an. Durch Gewalt erlangt die gewaltausübende Person wieder die Kontrolle über die Situation und die andere Person, dann schämt sich die gewaltausübende Person für die Gewalt, tritt ein in eine Phase des Schweigens und sich Entschuldigens. Mit jeder neuen Diskussion und Uneinigkeit beginnt alles wieder von vorn.

10. Laut Statistik üben häusliche Gewalt zu 80 Prozent Männer aus. Eine aktuelle Studie schlägt Wellen, wonach viele junge Männer Gewalt gegen Frauen als durchaus legitim ansehen. Was geben Sie speziell Männern mit auf den Weg?
Auch wenn zahlreiche Experten die Studie kritisieren, so zeigt die Praxis: Das Rollenbild vom beherrschenden, Gefühle verbergenden, die Familie finanziell versorgenden Mann und einer sich um die Familie kümmernden, dem Mann „hörigen“ Frau schafft Ungleichheit in der Partnerschaft bis hin zu gewaltfördernden Abhängigkeiten. Ich rate: Alte Rollenbilder hinterfragen, auf einer Augenhöhe denken und sich von außen Verstärkung holen über Freunde. Freunde bemerken schnell, wenn etwas nicht stimmt, schalten sich ein, damit das Paar sich Hilfe holt. Mein Rat hier auch Freunde, Bekannte und Kollegen: Keine Sorge, sich nicht „reinhängen“ zu dürfen oder jemanden „anzuschwärzen“. Holen Sie Hilfe, reden Sie mit den Betroffenen, damit nicht immer neue Opfer produziert werden und alle schauen zu. Die Polizei ist als erste Anlaufstelle immer eine gute Wahl mit Fachleuten, die die richtigen Maßnahmen ergreifen können. Und auch das Geraer Netzwerk gegen häusliche Gewalt vermittelt an diejenigen, die im konkreten Fall helfen können.

Projekt Orange:

  •  Betreute Fälle im Jahr 2022 in der Beratungsstelle Gera: 65, in Thüringen: rund 160
  •  Geschäftsstelle: De-Smit-Straße 28, 07545 Gera
  •  Beratungstermin vereinbaren über 0157 54493834, gera@orange-thueringen.de
  •  www.straffaelligenhilfe-thueringen.de
  •  Projekt Orange ist ein Projekt der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Thüringen e.V., wird thüringenweit gefördert an fünf Standorten vom Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz als flächendeckendes Pilotprojekt zur Arbeit mit Gewaltausübenden

Geras Gleichstellungsbeauftragte und das Geraer Netzwerk gegen häusliche Gewalt:
Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Gera, Catrin Heinrich, besucht Mitglieder des Geraer Netzwerkes gegen Häusliche Gewalt. Sie möchte damit auf die zahlreichen Beratungs- und Hilfeangebote des Netzwerkes mit rund 20 Mitgliedern aufmerksam machen, damit Hilfesu-chende wissen: Bei häuslicher Gewalt kann ich mich auch anonym und kostenlos an viele Beratungsstellen wenden. Häusliche Gewalt umfasst körperliche, sexuelle, psychische und auch physische Gewalt. Es darf Menschen nicht etwas angetan werden, was dessen Gesundheit und seiner Unversehrtheit schadet.
Auch die Gleichstellungsbeauftragte ist zu Fragen rund um häusliche Gewalt als Vermittelnde sowie zu allen anderen Gleichstellungsthemen zu erreichen unter: