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2025

Mai 2025: Kleiner Splitter mit großer Geschichte

. © Stadtmuseum Gera
Bruchstück mit Begleitschreiben der 1917 zerschlagenen mittleren Glocke der Geraer Salvatorkiche

Er dürfte eines der unauffälligsten Objekte des Stadtmuseums sein: ein etwa 4 × 2 cm großer Metallsplitter, scheinbar nicht der Erhaltung wert. Wenn da nicht dieses zerknitterte Stück Papier wäre, auf dem in altertümlicher Schrift vermerkt ist: „Ein Stück Erz von der Mittleren Glocke des St. Salvatorturmes, die am Vormittag des 24. Juli 1917 zerschlagen worden ist.“ Plötzlich erhält das Objekt eine ganz andere Bedeutung, schafft eine starke Verbindung zu einem lange zurück liegenden Ereignis. Fast ehrfürchtig fällt der Blick nun auf die graugrün schimmernde Bronze, den letzten Rest einer etwa 1100 kg schweren Kirchenglocke, die vor 108 Jahren zertrümmert und eingeschmolzen wurde.

Die Ursache dieser im gesamten Deutschen Reich im Jahr 1917 durchgeführten Glockenabnahmen lag in der zunehmenden Rohstoffknappheit im vierten Jahr des Ersten Weltkrieges. Kriegswichtige Materialien wie Kupfer, Messing, Bronze und Zinn wurden mit teilweise drastischen Maßnahmen beschlagnahmt. So erließ das Kriegsministerium am 1. März 1917 eine Anweisung zur Erfassung und Abgabe von Bronzeglocken. Die Glocken sollten zunächst in drei Kategorien eingeteilt werden, wobei die Gruppe A Glocken ohne kunsthistorischen Wert enthielt, die Gruppe B Glocken, deren Bewahrung wünschenswert sei. Die Objekte der Gruppe C wären dagegen aufgrund ihres Alters unbedingt zu erhalten. Bei der Auswahl sollte außerdem berücksichtigt werden, dass jede Kirche zumindest eine Glocke behielt.

Für die Registrierung im Geraer Raum sowie in den Orten um Hohenleuben, Triebes und Langenwetzendorf war der Direktor des Städtischen Museums in Gera, Alfred Auerbach, zuständig. Wie Unterlagen im Stadtmuseum zeigen, erfasste Auerbach im Frühjahr 1917 insgesamt 115 Bronzeglocken in 45 Ortschaften. Deren Gesamtgewicht betrug rund 30.000 kg. Eine zum damaligen Zeitpunkt 100 bis 200 Jahre alte Glocke wurde in der Regel nicht als historisch wertvoll eingestuft, so dass sich folgende Aufteilung ergab: Gruppe A 64 Stück, Gruppe B 38 Stück, Gruppe C 13 Stück.

Bis 1. August 1917 wurden schließlich 60 Glocken aus der Gruppe A mit einem Gesamtgewicht von 15.647 kg beschlagnahmt und eingeschmolzen.

Die Kirchen in der Geraer Innenstadt traf es besonders hart. Ihre oft erst nach dem Stadtbrand 1780 hergestellten Glocken waren nicht alt genug, um der Beschlagnahme zu entgehen. In den Gottesdiensten am 22. Juli 1917 nahm Gera Abschied von seinen Kirchenglocken. Eine volle Viertelstunde lang ertönten letztmalig die Geläute der Johannis- und der Salvatorkirche. Nach der Abnahme in den folgenden Tagen verblieb nur jeweils eine Glocke in den beiden Kirchen.

Das Geläut der Salvatorkirche bestand aus drei Glocken, die große von 1785, die mittlere von 1784 und die kleine von 1818. Eine vierte Glocke von 1782, nur halb so groß wie die drei erstgenannten, diente vermutlich für Alarmzwecke oder als Schlagglocke für das Turmuhrwerk. Erhalten blieb der Kirche lediglich die große Glocke. Die drei anderen wurden am 24. Juli 1917 abgenommen und – um sie besser transportieren zu können – vor Ort zerschlagen.

Letztendlich wurde auch die große Glocke der Salvatorkirche ein spätes Opfer des Weltkrieges. Im Dezember 1922 konnten in der Kirche als preisgünstiger Ersatz drei neue Stahlglocken eingeweiht werden. Um das neue Geläut zu finanzieren, musste allerdings die einzige noch erhaltene Bronzeglocke zur Einschmelzung verkauft werden. Im Spätherbst 1922 erfolgte ihr Abtransport, der fotografisch festgehalten wurde.

Ein Stück Metallguss, von einem Geraer aufgehoben und ans Museum gegeben, ist somit alles, was von den vier Bronzeglocken der Salvatorkirche übrig blieb. So klein es ist, erzählt es doch von großer Geschichte, von den Auswüchsen dieses Krieges und mahnt zugleich, aus dieser Geschichte zu lernen.

. © unbekannt
Die 1785 gegossene große Glocke der Salvatorkirche beim Abtransport 1922